Antonius im Kofferraum  |  Ein Zwischenfall am Niagarafall


Vater-Sohn-Ferien in Übersee: Toronto. Ziemlich warm im Sommer. 

Wir besteigen den Bus nach Niagara, damit die dortige Gischt uns etwas Kühlung verschafft. Hinter uns tuschelt ein französisch sprechendes Paar, und ich merke beim Nichtweghörenkönnen, wie dürftig meine Kenntnisse unserer zweiten Landessprache geworden sind.

Nach zweistündiger Fahrt erreichen wir den Busbahnhof von Niagara. Natürlich sind wir nicht nuuuur wegen der Gischt gekommen, sondern auch ein bisschen wegen der berühmten Niagarafälle: The Maid of the Mist, Marilyn Monroe im gelben Regenponcho … buaaaaah. 

 

Das Taxi dorthin nehmen wir mit den Franzosen zusammen, weil das «moin chère» ist. Nettes Geplauder mit dem Chauffeur: «All these casinos they put up recently … This used to be a nice little town.» Dann endlich sind wir da. Der Taxifahrer: «Pass through this building to reach the Horseshoe Falls. Fifteen dollars please. Have a lovely day gentlemen!»

 

Als Erstes mit den Franzosen abrechnen: «Macht sept cinquante, s’il vous plaît.» Und dann auf geradem Weg zum Hufeisenfall rüber, der 

so super sein soll. Wenn nicht … 

 

Mein Rucksack! 

Im Kofferraum … 

Merde!

Schon weg, der nette Mensch … 

Shit!

 

In der niagarischen Hitze läuft es mir kalt den Rücken runter. «Was war da alles drin, Gian?» Gian: «Mein Etui, ein Zeichenblock, die blaue Regenjacke, eine Flasche Wasser und, äh, meine neue Brille.» Phuuuuii! Und von mir? Da muss ich nicht lang hirnen. Die Nikon mit dem Weit­winkelobjektiv. Herrgottnochmal, bitte nicht! Und … nein … das Geld hab ich ja hier. Oh mein Gott … Was sollen wir jetzt bloss tun?

Es wird richtig warm. «Gian, setz dich mal in den Schatten da drüben.» Ich bleibe einfach hier stehen. Vielleicht merkt der Fahrer ja, dass er vergessen hat, mir den Rucksack herauszugeben, und kommt zurück. Schliesslich hat eeeer ihn in den Kofferraum gelegt. Mistkerl.

 

Es gibt gelbe und graue Taxis. Auch ein paar schwarze. «Gian, welche Farbe hatte unser Taxi?» Er weiss es auch nicht. Wie auch? Ich tendiere 

zu Grau. Meine schöne Nikon. Wie kann man nur so blöd sein! «War die Jacke neu?» Gian: «Nicht nur.» – «Was meinst du mit nicht nur?» Gian: «Sie war auch teuer. Mami hat sie mir gekauft». Oh Gott.

 

Das Taxi kommt nicht. Das heisst, Taxis kommen viele … Die gibt‘s hier wie Sand am Meer. Durch die Scheiben versuche ich die Fahrer zu erkennen – unseren Fahrer. Nicht leicht … Die Scheiben sind alle hochgekurbelt. Air Conditioning. Affenhitze! Wie hiess der Fahrer? Er hat mir doch seinen Namen gesagt. Wilbur? Maxwell? Mein Namensgedächtnis ist schon legendär. Richtig legendär. So viele Taxis. Ich halte eines an. «Excuse me Sir. May I call your company? We miss some baggage.» Er gibt mir die Nummer. Ich rufe an. Via Schweiz. Weil mein altes Nokia hier drüben nicht funktioniert, gibt mir Gian sein Samsung Galaxy. Richtig gut, dass ich extra noch Guthaben mitgebracht habe, so Zettel vom Kiosk . Schlauer Yves. Dann füll mal nach. «Of course Sir, I will send out a request to all our cab drivers. Was it grey or yellow? We’re the grey ones». Eben. Ich weiss es nicht. Von den Gelben habe ich keine Nummer. Dafür Durst. «Gian, gib mir mal das Wasser.» Gian: «Ist im Rucksack.»

 

Okay, immer schön ruhig bleiben. Nikon weg – Niagarafälle hinter dem Gebäude. «Sollen wir’s uns mal anschauen?» Gian: «Okay.» 

 

So viele Menschen. Ich versuche mit einer Art Zen-Übung, mein Nervenflattern in den Griff zu bekommen. Nichts denken. Nur Wasserfall. 

Woher kommen all die Menschen? Haben die auch Ferien? Die Nikon bekomme ich schon wieder. Habe immer Glück gehabt im Leben. Also durch das Drehgestell. Zur Glasfront da drüben und raus. Es stiebt. Aber man sieht kaum etwas, überall sind Menschen: Amerikaner, Chinesen, arabische Familien mit Frauen im Tschador. Hinter der Abschrankung erhebt sich ein grosser Nebel. Ziemlich feucht hier. 

 

Erstaunlich, wie ruhig dieser türkisblaue Vorhang aus Wasser, Licht und Luftblasen über die Klippe zieht – wie Haut aus flüssigem Kristall. 

Weiter unten bildet sie Falten, reisst auf und schäumt. Gischtwolken. Ein Tosen und Brausen. Unfassbar. Und doch so ruhig. Die Brandung über dem Fels. Schön, dieser Moment. Er wird nur einmal sein. Das glitzernde, blaue Leben stürzt in die Nebel der Vergänglichkeit. Einen Rückwärtsgang gibt es nicht. Wie schnell man sich wieder abwendet … Man bestaunt das Wunder, saugt es ein, und kaum dass die Augen sich füllen durften, dreht man sich um und wird sofort erschlagen vom Sprachenwirrwarr, vom säuerlichen Geruch der Hotdog-Stände, von der Hitze, dem Durst, der vermissten Nikon mit dem Weitwinkel drauf. 

 

Es folgt ein Telefonmarathon. «Hi Miss, it’s me again. No incalls for that lost backpack yet?» – «No Sir, we’re sorry.» Wieder Guthaben nachladen, wieder telefonieren. Was machen? Nicht mehr lange und unser Bus fährt zurück nach Toronto. Man kann hier nicht irgendeinen Bus nehmen, man muss deeeen Bus nehmen, der um halb fünf fährt – so steht‘s auf dem Ticket. Bürokratischer Blödsinn. 

Wenn wir hier mal weg sind, dann ist auch die Nikon weg. Unsere teure Begleiterin, mein Auge, mein Werkzeug. Eine Reportage wollte ich machen. Über die Indianer. Soll ich es mit Gians Samsung versuchen? Ein avantgardistischer Down-to-the-bottom-reality-Report in grober Auflösung? Gian hätte keine Freude.

 

Während mich der Verlust drückt, meldet sich mein Sohn: «Wieso glaubst du eigentlich, dass es ein graues Taxi war?» – «Was sagst du? Nun, ich weiss nicht. Ich denke, ein graues passt einfach besser rein. Irgendwie war es doch grau, oder?» Gian: «Vielleicht.» 

 

Langsam werde ich etwas lockerer. Der kristallene Niagarafall hat gut getan. Sehr gut sogar. In diesem Moment erinnere ich mich an eine alte Familientradition: Wenn meine Eltern früher etwas verloren hatten, versprachen sie dem heiligen Antonius einen Fünfliber. Den warfen sie dann bei nächster Gelegenheit ins Antoniuskässeli. 

Auch das noch … ein Heiliger. Also gut, Antonius, kriegst zwanzig Dollar für die Nikon. Versprochen.

 

Gian: «Willst Du meine Meinung hören? Ich bin mir sicher, dass der Mensch seine Erinnerung zurechtbiegt.» – «Wie meinst du das?» 

Gian: «Der Mensch weiss nicht, ob es ein graues oder ein gelbes Taxi war. Und dann denkt er: Vielleicht war es ein graues Taxi – ja, es könnte ein graues gewesen sein, und schon ist er sicher, dass es kein gelbes war.» – «Na und?» Gian: «So biegt der Mensch seine Erinnerung zurecht. Er erinnert sich nämlich gar nicht. Er meint nur, dass es ein graues Taxi war, weil ihm Grau halt irgendwie passender erscheint als Gelb. Und wenn er mal denkt, es war grau, dann ist es so und nicht gelb.» Mein Sohn …

 

Wir setzen uns neben dem Weg in den Schatten eines nordamerikanischen Koniferengewächses. «Sollen wir zurückgehen, ganz langsam? Bald fährt unser Bus, und es kommt, was kommt.» Gian: «Okay, ganz langsam. Aber erst machen wir Pause.» Ich ziehe meine Schuhe aus.

 

Den Rückweg zum Busbahnhof gehen wir so langsam wie möglich zu Fuss, um die Taxifahrer nicht aus den Augen zu verlieren. Gian's Würdigungen der amerikanischen Landhausarchitektur sind rührend. Er mag die Erker und Veranden. Ja, ganz hübsch. Eine halbe Ewigkeit und zwei Hotdogs später erreichen wir in der flimmernden Nachmittagshitze den Busbahnhof. In fünfzehn Minuten fährt unser Bus. 

 

Wir stehen im Schatten vor der Wartehalle, wo wir vor ein paar Stunden das Taxi genommen haben. Gegenüber liegt ein leer stehendes Backsteingebäude. Das alte Niagara ist gar nicht so hässlich, aber es macht einen etwas einsamen Eindruck. Woher kommt eigentlich der Name Niagara? Von den Irokesen wahrscheinlich, den «Menschen vom Langhaus». Noch zehn Minuten.

 

Vor uns steigen ein paar Japanerinnen aus einem Auto. Ein Herr öffnet den Kofferraum und verteilt das Gepäck. Mein Blick bleibt hängen 

am Rucksack, der übrig bleibt. Ich erkenne das eingestickte Logo. «Hello Sir. I‘ve been looking for you.» sagt der Herr, der vor mir steht, 

und reicht mir meinen Rucksack. Oh mein Gott. Die Nikon. 

 

Und das Taxi? Es ist gelb. Gelb wie eine Zitrone.

 

 

 

Seltsame Figuren  |  Velotour mit Kornkreisen


Im Süden von England … Es ist ein angenehm warmer 
Spätsommerabend. Wogende Kornfelder säumen die Landstrasse. 
Am Horizont der erste Hügel. Wir treten in die Pedalen. 
Wir, das sind Stephan und ich. 

 

Hier, am untersten Zipfel des Königreiches, gibt es um diese Jahreszeit Überraschendes zu entdecken. Über Nacht erscheinen riesige Figuren in den Kornfeldern. Wunderbare, geometrisch anspruchsvoll geformte, sogenannte Kornkreise. 
Im Schutz der Dunkelheit biegen sich die Halme, die Ähren legen sich zu Boden, in schmalen oder breiten Linien, schnurgerade oder in weiten, perfekt gezirkelten Kreisen und Spiralen. Niemand ist 
von diesem Vorgang jemals Zeuge geworden (ausser denjenigen natürlich, die so etwas produzieren).

 

Die Strasse ist lang, und da vorn kommt der Hügel. Wenn wir bloss schon oben wären. «Hey Steph, wie lange das wohl noch dauert, bis wir mal einen Kornkreis finden?» Pssssssss … Mein Fahrrad gerät ins Trudeln. Reifen platt. 

Eine halbe Minute später kommt scheinbar aus dem Nichts ein Fahrradfahrer in leucht-gelber Sportmontur herangeschossen. «Good Evening Gentlemen. Need any help?» Glücklicher Zufall: 
Er hat Flickzeug und eine Pumpe dabei. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht streckt er sie mir hin, und ich mache meinen Reifen wieder flott. «Mind that hill there, that’s a killer», meint der gelbe Glückskäfer, schwingt sich auf sein schnittiges Bike, und weg ist er. Ich opfere ein frisches Taschentuch und wische meine Hände sauber.

 

«Hey Yves, schau mal da drüben!»

«Wo denn?»

«Na, da. Da hinten. Mann, ist der gross!» 

 

Oh ja, das Ding ist gross. Sehr gross. Wir sparen uns den Hügel für später auf, legen die Fahrräder neben die Strasse und betreten 
das Kornfeld. Nach ein paar Schritten stehen wir in einer etwa zwei Meter breiten Schneise. Die Getreidehalme liegen platt am Boden. Die Schneise zieht in einem weiten Bogen ins Feld hinein. 
Nach etwa dreissig Metern treffen weitere Bahnen an einem Punkt zusammen, weiter hinten wieder und wieder. Wo wir ihr Zentrum vermuten, versuchen wir die Figur zu überblicken. Unmöglich! 
Viel zu gross. Auffallend aber, wie exakt die Linien gezogen sind. Und das soll über Nacht entstanden sein?

 

Eine Stunde später … Wir stehen nun oben auf dem Hügel – 
definitiv warmgestrampelt. Weit unter uns liegt der Kornkreis wie eine ornamentale Verzierung auf dem Teppich der englischen Landschaft. Ein blumenähnliches Gebilde aus sieben sich überschneidenden Kreisen und vielen blattförmig angeordneten Teilstücken weiterer Kreise. Seinen Durchmesser schätzen wir auf 150 Meter. Den erhabenen Anblick preisen wir mit einem warmen Bier.

 

Am nächsten Morgen … Im taufeuchten Gras steht der Gaskocher, und darauf blubbert der Kaffee. Während der betörende Duft sich ausbreitet, lege ich mich nochmals in den warmen Schlafsack. Wenig später schabt von aussen etwas oder jemand an der Zeltwand herum. Über meinem Kopf entsteht eine Einbuchtung, wo keine Einbuchtung sein sollte. Was zum …?

 

«Hey Steph, siehst du das?» 

«Seh ich was?»

«Na, das da. Diese Einbuchtung!»

 

Im Pyjama klettere ich aus dem engen Zelt und über den Gaskocher. Der Kaffee riecht ausgezeichnet. Als ich mich umdrehe, steht da ein Pferd. Ein ordentlich grosses noch dazu. Weiss mit schwarzen Flecken. Oder umgekehrt. Gemütlich kaut es auf einer Spannleine herum. «Nennen wir ihn Henry», sagt Steph und tätschelt ihm den Hals.

 

Am Nachmittag … Auf einem alten Friedhof duckt sich eine gedrungene, graue Sandsteinkirche zwischen urchige Eiben. 
An einen altersschiefen Grabstein gelehnt pausieren wir ein bisschen und geniessen den pittoresken, stillen Ort. Mit einem leisen Quietschen öffnet sich das Holztor in der Friedhofsmauer und ein würdevoller Herr in Karo-Anzug und Karo-Socken kommt gemächlich auf uns zu. Bei den Fahrrädern hält er inne und scheint interessiert ein Detail daran zu studieren. Dann wendet er sich an uns: «One of you does not use the granny gear.» (The granny gear: umgangssprachlicher Ausdruck für den kleinsten Gang eines Fahrrades. An Stephan's Drahtesel der einzige Zahnkranz, der nicht von der Kette saubergerieben und deshalb vom Pfarrer als unbenutzt erkannt worden ist.)

 

Gegen Abend … In einer Kapelle. Vor dem Altar kauert eine greise Dame und bringt ein paar Dinge in Ordnung, schiebt dieses hierhin und jenes dorthin. Als sie uns bemerkt, erhebt sie sich, streicht 
sich eine Haarsträne aus dem Gesicht und meint: «It’s such a lovely place here, isn’t it? I am terribly sorry the flowers are not yet ready for you.»

 

Marlborough … Noch eine Kirche. (Wir mutieren langsam zu Kirchgängern). Die Sitzreihen befinden sich längs des Kirchenschiffs, nicht quer dazu, wie bei uns üblich. Wir setzen uns hin. Ja, so kann man während der Messe sein Gegenüber beim Gebet beobachten. Interessante Einrichtung! Viel interessanter jedenfalls, als ständig einen Hinterkopf anzustarren.

Zwei Männer in den Dreissigern betreten den Raum, grüssen uns und stellen sich vor der Kanzel nebeneinander hin. Einer kramt ein paar Papiere aus der Tasche und hält sie auf Augenhöhe in der ausgestreckten Hand. Dann beginnen die beiden voller Inbrunst zu singen. Der Raum erblüht. Die Jungs haben’s drauf.

 

Silbury Hill … Nach einer regnerischen, kalten Nacht, in der wir auf demjenigen Hügel campierten, an dessen Flanke in vorchristlicher Zeit das berühmte weisse Pferd in den kalkhaltigen Boden geritzt worden ist, radeln wir weiter und erblicken schliesslich den Silbury Hill. Wie ein überdimensionierter umgekehrter Kessel erhebt sich dieser sagenumwobene, in grauer Vorzeit von Menschenhand aufgeschichtete Hügel in der Landschaft. Eine Gruppe von etwa zehn Leuten kommt von da heranmarschiert. Sie tragen bunte wollene Mäntel, mit Federn verzierte Hüte, bemalte Stäbe, Rasseln, Knochenamulette. Stumm gehen sie an uns vorbei. 

 

Im Pub … Am Nachbartisch sitzen ein paar schwere Jungs in schwarzen Lederjacken. Ihre dicken Motorräder müssen draussen bleiben. Wir bestellen Kohlsalat. Etwas anderes gibt es nicht. 
Nur Kohlsalat und lauwarmes Bier. Das ist Absicht – es muss lauwarm sein und nach alten Socken schmecken. 
Alles andere ist unbritisch.

 

 

 

Der lange Weg zum sauberen Bild  |  Aufwand und Ertrag einer Wanderung


Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich eine Auszeit nahm und mich für ein paar Wochen in die Wildnis Kanadas absetzte. 

Ich nahm nur das Notwendigste mit: Kleider, Kompass, Farbstifte und ein paar andere Annehmlichkeiten. Dazu gehörte auch eine stabile Kartonröhre mit Siebdrucken drin. Ich dachte, wenn ich diese bei Gelegenheit verkaufen könnte, würde das ein hübsches Sümmchen einbringen und mir gut über die Runden helfen. 

Auf meiner Reise ins Hinterland, als die Dörfer immer kleiner wurden, suchte ich in einem winzigen Kaff zwecks Verkaufsgespräch den dortigen Gift and Art Shop auf. Und ich hatte Glück. Die Galeristin, Frau Dublanc, fand Gefallen an den Drucken und kaufte mir einen ab – für ein Trinkgeld. 

Ein paar Tage später ging mir die menschenleere Wildnis ein bisschen ans Gemüt und ich rief von einer einsamen Poststelle aus Frau Dublanc an. Ich wollte mich erkundigen, ob sie meinen Druck schon gewinnbringend habe verkaufen können. «Gut, dass Sie anrufen», meinte die Dame, «es wäre vorteilhaft, wenn Sie sich herbemühen würden. Ihr Bild hat einen Fleck.» – «Tatsächlich?» Wie konnte mir das entgangen sein? «Ja, links unten. Am besten, Sie kommen gleich her.» Eigentlich hatte ich gegen einen neuerlichen Besuch des Ortes nichts einzuwenden. Doch bis dahin war es ein ordentlich langes Stück Weg. 

 

Ich stand also früh auf am nächsten Tag und stellte mich mit erhobenem Daumen an den Strassenrand. Die paar Autos, die an diesem Morgen Richtung Süden fuhren, schienen alle ein anderes Ziel anzusteuern. Die Fahrer winkten jeweils freundlich und fuhren ohne mich weiter. 

 

Es war warm geworden, doch zum Glück hatte ich daran gedacht, eine kleine Flasche Wasser mitzunehmen. Nach langem vergeblichen Warten nahm ich den Weg zu Fuss in Angriff. Ein paar Stunden Fussmarsch war zu verkraften. Nach etwa sieben Strommasten beschloss ich, die eintönige Strasse zu verlassen und der nahegelegenen Küste entlangzuwandern.

 

In einem langgezogenen Bogen flimmerte die Bucht in der Sommerhitze. Das Ufer bestand aus ziemlich grossen, runden Steinen, auf denen das Gehen mühsam war. Ich versuchte trotzdem, ein flottes Marschtempo beizubehalten und nicht an die bereits schmerzenden Füsse zu denken. Das ging aber nicht, weil auf den grossen Steinen kaum richtig Tritt zu finden war und die Empfindung die meine Fusssohlen aussandten nach Aufmerksamkeit schrie. Doch irgendwann würde ich schon noch die Landzunge erreichen, die als ferner Zipfel die Bucht abschloss. Kurz danach würde ich die Ortschaft erreichen und im Gift and Art Shop die Sache mit dem Bild in Ordnung zu bringen. 

 

Doch als ich nach einer halben Ewigkeit den Zipfel erreichte und mir gerade selbst zu dieser Leistung gratulieren wollte, bot sich mir dahinter nochmals genau das gleiche Bild: eine weite Bucht, grosse Steine und ein ferner Zipfel. Einziger Unterschied: Eine lose Gruppe von Thujabäumen, die bis ans Ufer reichte. Ich legte eine Pause ein und verstaute die leere Wasserflasche im Rucksack. Die Wasserlinie des riesigen Sees krümmte sich am Horizont. Schräg hinter mir, etwa einen Steinwurf entfernt, entdeckte ich einige Kanadagänse, die zusammen einen gemütlichen Spaziergang unternahmen. Ihr seltsamer Watschelgang erinnerte mich an noble, ältere Herren, die mit Zylindern und Spazierstöcken durch einen Stummfilm flimmern. 

 

Den zweiten Zipfel schaffte ich, als der Nachmittag still und schwer geworden war. Doch was dahinter zum Vorschein kam, war eine weite Bucht, grosse Steine und ein sehr ferner Zipfel. Der Himmel war tiefblau geworden, und die Wasserlinie am Horizont schien sich zwischen Himmel und See aufzulösen. War ich kleiner geworden? Hatte der Raum sich ausgedehnt? Ich trank aus dem See. 

Als ich die Mitte dieser dritten Bucht erreichte und nicht mehr hätte sagen können, wie lange ich schon über Steine gestolpert war, entschied ich mich für einen Richtungswechsel. Ich schlug mich in die Büsche und suchte nach einem Weg durch den dichten Wald. Irgend­wann würde ich die Strasse finden, die ich am Morgen verlassen hatte und konnte dann wieder versuchen, eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern. Schliesslich fand ich einen schmalen Pfad, der nach und nach etwas breiter wurde und nach einer geschätzten Stunde Marsch die Beschaffenheit und Qualität einer Waldstrasse erreichte. Es marschierte sich gar nicht schlecht auf so einer Waldstrasse. 

 

Und ja – es geschah ein Wunder. Scheinbar aus dem Nichts kam ein Geländewagen dahergefahren mit einem ungarischstämmigen Koch am Steuer, der sogleich anhielt und mir bedeutete einzusteigen. Kaum hatte ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen, zeigte mir Istvan – so hiess der ungarische Koch – ein langes Messer, das er aus dem Handschuhfach zog. Er grinste. 

In diesem Land müsse man auf alles gefasst sein. Das Messer verwahre er da, um etwa angefahrenes Wild von der Pein des langsamen Krepierens zu befreien. Er sei sehr tierlieb. Dann zog er seine Hosen herunter. Er drehte sich etwas zur Seite und deutete auf eine Stelle an seinem Oberschenkel. Zwei schwarze Löcher waren da zu sehen, beide etwa erbsengross. Er grinste wieder. «Schlangenbiss.» 

Als er die Hosen wieder oben hatte, holperten wir los durch den grossen Wald und die Dämmerung brach herein. «Die Leute hier wissen einfach nicht, wie man ein Gulasch kocht!» Istvan zündete sich eine Zigarette an, Marke Players: Weisse Schachtel mit einem Matrosenbildchen drauf. «Überhaupt haben die hier keinen blassen Schimmer vom Kochen. Armes Volk.» Als wir endlich die Strasse erreichten und abbogen Richtung Dorf, Gift and Art Shop und Bild mit Fleck, war es dunkel geworden. 

 

Nach dem zweiten Klopfen hörte ich Schritte im Haus. Jemand kam eine Treppe herunter. Doch es war nicht Frau Dublanc, die die Tür öffnete, sondern ihr Ehemann. Seine Frau sei nicht zu Hause. Ich erklärte ihm, weshalb ich hergekommen sei und dass ich einen weiten Weg zurückgelegt hätte. Die Sache mit dem Bild sei wohl eine Kleinigkeit, die sich rasch bereinigen liesse. Er meinte, es sei schön, junge Leute zu treffen, die noch zu Fuss unterwegs sind, aber leider könne er mir nicht helfen. Anstatt mich ins Haus zu bitten, versicherte er mir, er mische sich nie in die geschäftlichen Angelegenheiten seiner Gemahlin ein, auch nicht bei Kleinigkeiten. Unterschätzte Kleinigkeiten erwiesen sich zu gegebener Zeit oft als nicht zu verharmlosende Problemfelder. Und davon gebe es auch ohne sein Zutun schon genug. Er könne meiner Bitte nicht entsprechen. Er bat mich, im Garten auf die Ankunft seiner Gemahlin zu warten. Freundlicherweise leistete er mir dabei Gesellschaft. Wir tranken Tee im Garten, betrachteten die Sterne und konversierten ein bisschen. 

 

Als ein kleiner smaragdgrüner Käfer über den Tisch krabbelte und sich langsam Herrn Dublancs grossen Händen näherte, bemerkte dieser, wie wunderbar Gottes Geschöpfe sich an die harten Lebensbedingungen der Natur anzupassen wüssten und wie gut es sich anfühle, wenn man ihnen respektvoll begegne. Es sei eine noble Geste, auch einem scheinbar unbedeutenden Insekt das Recht auf Leben zuzugestehen, anstatt es einfach unbedacht zu zerquetschen. Schliesslich sei die Welt auch ohne unser Zutun ein Ort von Gewalt und Schrecken. 

Beim Anblick des langsam sich vortastenden Käfers merkte ich, wie müde ich geworden war. Nach längerem Schweigen durchschnitten zwei Lichtkegel die Dunkelheit und Frau Dublanc kam in ihrem Wagen vor das Haus gefahren. Kurz darauf standen wir im Gift and Art Shop und betrachteten meinen Druck, der vor uns auf dem Tisch lag. Links unten war ein feiner, bleifarbener Fingerabdruck zu sehen, der da nichts verloren hatte. Ich kramte einen Radiergummi aus dem Rucksack hervor und rubbelte den Fleck weg. «Herzlichen Dank», sagte Frau Dublanc. «Wirklich ein schönes Blatt.» 

 

Wie ich an diesem Abend wieder zu meinem Zelt gekommen bin, weiss ich nicht mehr. Eines jedoch war mir klar geworden: Rein rechnerisch ergibt das Leben manchmal keinen Sinn – aber den nächsten Druck würde ich teurer verkaufen.

 

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